Was nun Frau Pansch
"Etwas neues beginnt"
2014, das erste Jahr nach meinem Leben mit Horst. Es ist schon eigenartig nach so langer Zeit nur noch mit Erinnerungen zu leben, allein zu sein und nur noch die eigene Stimme zu hören. Ja, ich spreche jetzt mit mir; frage und antworte, alles in einem. Zum Nachdenken komme ich wenig, zum Glück ist das so, ich habe viel zu tun, zu erledigen, zu verändern. Ich räume im Haus, im Garten und in meinem Leben. Doch allmählich geht die Arbeit aus, das Nachdenken füllt die freien Räume. Dann spazieren meine Füße mit mir an den Rhein, an die Wied, über die Felder oder ich sitze am Laptop, da bin ich nicht so allein. Facebook ist ein guter Ablenker und einige Menschen, am anderen Ende des Internets, sind mentale Samariter. Besonders dann, wenn mich die Erinnerungen nicht in Ruhe lassen. Ich spüre, ich bin kein Mensch, der für immer Selbstgespräche führen kann.
Was dann passiert, das passiert jeden Tag millionenfach. Ich entdecke in den Benachrichtigungen auf Facebook eine Freundschaftsanfrage und bin kurz darauf auf der Seite eines Düreners namens Dieter. Sehr interessant denke ich, ein Filmemacher und Videojournalist. So weit, so gut. Doch aus dieser Freundschaftsanfrage, da wird mehr. Erst schreiben wir uns per E-Mail, dann telefonieren wir einige Male übers Festnetz.
Eine angenehme Stimme, die mit mir spricht. Kein seichtes Plätschern, sondern Sätze mit Inhalt. Die Gespräche werden jedes Mal länger. Wir wollen uns sehen. Der Unbekannte-Bekannte wird mich in Neuwied besuchen. Aber dieser erste Besuch fällt nicht ins Wasser, sondern ins Benzin. Er steht an einer Dürener Tankstelle und meldet sich per Handy: „Wir müssen den Besuch verschieben. Ich habe statt Diesel, Benzin getankt. Der Tank muss gereinigt werden.“ Wie das passierte? Wenn der Mensch nicht an der Stammstation tankt und ohne zu schauen, eben gewohnheitsmäßig zum Zapfhahn rechts greift, wo Diesel rauskommen sollte. Erst nach einem oder gar schon zwei Litern, bemerkt der Gewohnheitsmensch seinen Irrtum mit gravierenden Folgen.
Drei Tage später dann unser erstes Treffen und dabei bleibt es nicht. Ich hätte nie gedacht, dass aus diesem Facebook-Klick eine große Liebe werden könnte. Doch so ist es. Es passt, beide nach einem Schicksalsschlag solo, beide lachen über das Gleiche, mögen Literatur, Reisen und noch vieles mehr. Zeit für einen Neuanfang, den haben wir, denn wir sind ohne berufliche Verpflichtungen. Ja, so ist es und mit über 60, da ist das Leben sehr endlich und man sollte nicht zu lange zögern, um sich ein neues Leben aufzubauen.
Mein altes Leben interessiert Dieter. Er kann endlos zuhören, besonders dann, wenn ich auf die Zeit vor dem 28. März 1984 zu sprechen komme, auf mein Leben mit einer Mauer anstelle eines Horizonts. Für mich ist deshalb Freiheit so kostbar, seitdem ich sie leben darf. Auch das Reisen ohne Grenzen gehört dazu, dazu mein Traum in Meran auf Sissys Spuren zu wandeln. Der lässt mich, seitdem Horst und ich mit unserem Sohn in den Achtzigern einen Abstecher dorthin machten, nicht mehr los. Noch in diesem neuen Herbst 2014 reisen Dieter und ich für einen Kurzurlaub nach Südtirol, sogar noch weiter bis an die Adria. Auch nach Venedig rollen wir, wie es sich für Frischverliebte nun mal gehört. Ich mag dieses Italien. Seit meinem ersten Blick von Algund hinunter ins Tal auf Meran, meinem Schnuppern des Duftes der prallen Äpfel und der süßen, vollen Trauben komme ich von diesem Wunderland mit seinen liebenswert-naturverbundenen Menschen nicht mehr los. Es ist eine Sucht, eine wohltuende und Kraft bringende.
Die Fahrstunden im Urlaub sind lang und machen dazu frei, um auch über Dinge zu sprechen, die tief im Herzen verbunkert sind. Wir sprechen über vieles, eigentlich über alles, so eine Offenheit und Vertrautheit haben Dieter und ich. Zurück in Neuwied wissen wir, dass wir zusammenbleiben werden. Nur noch nicht in welcher Stadt. Ich muss weg aus Neuwied. Ich mag diese Stadt, aber ich renne vor den Erinnerungen, dieser 30 hier gelebten Jahre, weg.
Im Anzeigenschreiben, da bin ich geschult. Das habe ich zwar erst dreimal getan, aber jedes Mal mit Erfolg. Ich erinnere mich an die ersten Wochen 1984 in Montabaur, neu eingezogen in eine Wohnung in der Rheinstraße. Wir wechselten, als aus der DDR-Ausgereiste, in das uns zugewiesene Bundesland. Ein leeres Zuhause erforderte meine Kreativität und ich gab eine kostenlose Anzeige im Wochenblatt auf: „Neubürger aus der DDR mit dreijährigem Sohn suchen alles das, was den Neuanfang in Montabaur lebenswert macht“.
Da hatte ich eine Lawine der Hilfsbereitschaft ins Rollen gebracht. Die Westerwälder hüllten uns in Fürsorge ein. Wäsche, Geschirr, Polstermöbel, Spielzeug, alles, was der Mensch zum Neubeginn braucht, sogar ein komplettes Kinderzimmer erhielten wir ohne große Worte und irgendeine Bedingung. Aus Bekanntschaften wurden sogar Freundschaften. Einige Dinge von damals, die habe ich heute noch. Eines davon ist ein hübsches Kästchen, in dem sich heute das meinem Alter geschuldete Pillensortiment, diskret verbirgt. Sogar ein paar Geschirrtücher und Handtücher haben die Zeit überdauert. Ich halte an ihnen fest, irgendwie lässt mich eines meiner liebenswerten Ossi-Gene nicht los.
Eine zweite Annonce gab ich ein paar Jahre später in Neuwied per Telefon auf. In der „Such und Find“ stand dann schwarz auf weiß, dass bei Familie Pansch in der Kurtrierer Straße eine Tonne Kinderspielzeug zu verschenken sei, unser Sohn war dem Spielzeugalter entwachsen. Er bevorzugte Skateboard und BMX Rad. Mit seinem Lego, Duplo und so weiter spielten wenig später Kinder, deren Eltern nicht das Geld zum Kauf hatten. Eine Geste und ein Tribut an unsere Zeit damals in Montabaur, als wir von vielen Menschen unterstützt wurden. So können wir ein wenig an andere, die Hilfe brauchen, zurückgeben.
Die dritte Anzeige, ein Post, der mir helfen soll, meinen Hausstand zu verkleinern, erscheint 2014 auf Facebook. „Wer hat nicht alle Tassen im Schrank?!“, so frage ich jetzt ungeniert. Was soll ich sagen, ich werde nicht nur meine Tassen los.
In wenigen Wochen räume ich das gemietete Haus auf dem Neuwieder Kettgert aus und schließe mit diesem Teil meines Lebens ab. Ich nehme nur wenige Dinge mit, dafür alles Schöne im Herzen und Kopf. Dann beginne ich in einer neuen Stadt ein neues Kapitel meines Lebens.
Düren, die Stadt, die poetisch als Tor zur Nordeifel bezeichnet wird, empfängt mich mit nassem Guss aus fantasievoll zerzausten Wolken. Irgendwo habe ich mal gelesen: „Du sollst einen Ort im Regen betrachten, um auszuloten, ob du dort leben willst“. Doch daran denke ich nicht, bin mit Verwaltungskram beschäftigt und suche mir aus meinem papiernen Umzugskram das zusammen, was ich zur höchstoffiziellen Anmeldung als Neudürenerin brauche. Am 11. November morgens, berühren meine Füße den Weg zum Kreisverkehr und immer weiter die Kölnstraße entlang, zum ersten Mal. Es ist schon anders als in Neuwied, wo an diesem 11.11. die Luft mit Konfettigeschwindigkeit zum Karnevalsorkan kulminiert. Aus Dürener Bäckereien duftet es nach Berlinern und Mutzen, das beruhigt mich. Die rheinische Frohnatur lebt sicher auch hier das aktive Brauchtum. Da werde ich schnell meine Anmeldung hinter mich bringen, bevor alle in und um Düren feiern. Doch so scheinen viele kalkuliert haben. Die Stühle im Wartebereich des Bürgerbüros sind gut besetzt. Es dauert eine Weile, bis ich dran bin. Eine nette Frau um die 50 erklärt mir, dass heute nur Notbesetzung herrscht, an normalen Tagen geht alles schneller. Trotzdem nimmt sie sich für mich viel Zeit, mehr als so eine Registrierung normalerweise braucht.
Sie will plötzlich wissen, warum es mich aus Neuwied ausgerechnet nach Düren verschlägt. Ich berichte ihr meinen Facebookzufall. Da habe ich etwas angerichtet. Es sprudelt aus ihr heraus, sie müsse mich warnen, ihre Freundin hätte Ähnliches erfahren. Deren männliche Errungenschaft von so einem neumodischen Dating Portal hätte sich als Fehlgriff erwiesen, jetzt wäre die Unglückliche wieder solo. „Ich begrüße Sie hier in Düren, wünsche Ihnen alles Gute und hoffe, dass es Ihnen nicht so ergeht wie eben geschildert“, fügt sie einer offiziellen Begrüßungsfloskel an. Dann bin ich entlassen und jetzt in Düren angemeldet.