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Bahnhof Dresden-Neustadt, 28. März 1984, morgens 7 Uhr. Ein kleiner Junge mit Plüschhund in der Hand, ein Mann mit Koffer und Reisetasche und eine Frau in grüner Parker-Kutte betreten die Bahnhofsvorhalle. Es sind Horst, 49 Jahre, Werkzeugmacher, ich, Petra, 31 Jahre, Diplomjournalistin und unser knapp dreijähriger Sohn Ernst. Wir begeben uns an diesem Tag in eine unbekannte Zukunft, denn wir wissen nicht, was uns erwartet und worauf wir uns einlassen. Aber eines ist uns ganz klar, wir wollen frei und unabhängig leben. Wir haben die kleine, verschlafene Kreisstadt Sebnitz in der sächsischen Schweiz verlassen und starten in den unbekannten Westen.

Noch zwei Stunden bis zur Abfahrt des Zuges nach Frankfurt, nach Frankfurt am Main. Der Bahnhof füllt sich nach und nach mit Menschen. Es sind Ausreisende und ihre Familien, Stasi-Spitzel, aber auch ganz Normalreisende.

Wo bleibt nur die Familie, um sich von uns zu verabschieden? Ich schaue in Richtung Bahnhofseingang, meine Hände sind feucht vor Aufregung. Was machen wir mit dem Geld in der Tüte, das wir noch gestern auf heimlichen Kanälen in Westmark getauscht haben und was machen wir mit den vielen DDR-Mark vom Garagen- und Autoverkauf? Wir wollen es doch eigentlich meiner Familie anvertrauen. Bleibt da nur als Ausweg der rostige Papierkorb hier in der Bahnhofshalle? Horst schaut mich an, er kann meine Gedanken erahnen. Mitnehmen dürfen wir unseren kleinen "Devisenschatz" auf keinen Fall, das ist streng verboten. Schmuggeln kommt nicht infrage, denn wenn die Sache auffliegt, droht Haft und das Schlimmste wäre, sie entreißen uns unser Kind und stecken Ernst in ein staatliches Kinderheim. Bei diesem Gedanken steigen mir Tränen in die Augen. Horst merkt das und nimmt beruhigend meine Hand in seine und drückt sie fest. Er beschwört mich: "Alles wird gut, wir haben noch Zeit." Die Gedanken schwirren weiter.

Was erwartet uns, wenn wir in Frankfurt am Main aus dem Zug steigen, oder kommen wir erst gar nicht dort an? Bangigkeit, Traurigkeit, einfach nur Schmerz, großer Schmerz. Wir müssen so viel Liebgewordenes und Vertrautes aufgeben. Sicherlich für immer.

Ernst wird unruhig, er wartet auf Oma und Opa und freut sich auf die Fahrt mit dem Zug. Hoffentlich bemerkt er meine Traurigkeit nicht. Um ihn abzulenken, nimmt Horst den Kleinen auf seinen Arm und zeigt ihm eine Dampflok, die schnaufend in den Bahnhof hinein rattert. Mit so einer werden wir gleich auf unsere Reise gehen, meint er und summt leise das Kinderlied "Der Schaffner hebt den Stab, gleich fährt der D-Zug ab…". Ernst freut sich und klatscht in beide Patschhändchen.

Der Bahnhof ist inzwischen übervoll mit Menschen, die alle möglichen Habseligkeiten bei sich haben. Eine Szenerie wie in einem Flüchtlingsfilm. Wir stehen immer noch in der Bahnhofshalle und warten. Nur die Zeiger der Bahnhofsuhr bewegen sich vorwärts. Endlich kommt die Familie. Blicke treffen sich, Umarmungen, Sprachlosigkeit, Ratlosigkeit, Verabschiedung, für immer? Horst und ich atmen auf. Wir können das Geld übergeben, zu treuen Händen meines Vaters. Er soll es aufbewahren, wofür ist noch ungewiss, genauso wie unser Schicksal. Diese Stunde des Abschieds ist für mich in nebliges Grau getaucht. Ich höre Worte, streichle Wangen, umarme, weine. Ein großes Durcheinander ist in mir und ich habe das Gefühl, vor Schmerz auseinanderbrechen zu müssen. Nur gut, dass Horst sich so liebevoll um unseren Kleinen kümmert. Ich bin in meinem Ausnahmezustand dazu nicht in der Lage.

Endlich oder doch vielleicht zu früh, unser Zug fährt ein. Wir drei gehen jetzt endgültig, halten die Hand unseres Kindes fest und gehen Schritt für Schritt zum Zug, steigen ein und suchen einen Platz in einem der überfüllten Waggons. Ein Pfiff, ein Ruckeln, der Zug setzt sich in Bewegung. Ernst schaut überrascht und die kleinen Händchen winken und berühren die angelaufene Fensterscheibe. Er freut sich so sehr, wir drei in dem ruckelnden Zug. Jeder Platz ist besetzt und jeder ist irgendwie mit sich beschäftigt. Ich krame in den Papieren. Habe ich auch alles dabei, auch den Saft und die Kekse für den kleinen Spatz? Horst schaut mich an, nickt und wuchtet unsere Habseligkeiten hinauf in die Kofferablage. Die Räder des Zuges rollen schneller, immer schneller, der Bahnsteig verschwindet. Auch das Bahnhofsgelände mit den Hunderten von Weichen, Kreuzungen, Signalen und den Stellwerken versinkt im Grau dieses Tages. Sogar durch die geschlossenen Fenster riecht es nach Ruß, nach Schienenabrieb und feuchtem Nebel.

Eine ruhig-unruhige, beinahe bedrohliche Stimmung macht sich breit, nur leise Unterhaltungen. Sogar unser kleiner Sohn bekommt diese Stimmung mit. Er schmust leise mit seinem Plüschhund und nach einiger Zeit fallen ihm gottlob die Augen zu und er verschläft diese erste Ungewissheit. In diesen bangen Momenten ahne ich nicht, dass ein paar Stunden später ein Konfettiregen in der weitgeschwungenen letzten Kurve vor der Staatsgrenze zur BRD herniederprasseln wird. Alles Schnipsel von persönlichen Dokumenten und von Entlassungsurkunden aus der DDR-Staatsbürgerschaft. Dokumente, die eigentlich später noch gebraucht werden. Wir handeln besonnen und behalten unsere Dokumente, nicht zuletzt aus Angst vor den Zugbegleitern und Zollbeamten, die uns ständig daran erinnern, dass wir uns immer noch auf DDR-Gebiet befinden und unser Schicksal noch fest in ihrer Hand liegt. Der Zug rollt weiter und weiter und ich versinke ohne jegliches Zeitgefühl in Gedanken. Gedanken, die weit zurück schweifen in mein bisheriges Leben.

Vom Ossi zum Wessi
"Angst und Hoffnung"

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