Kurz und Bündig
Geheimnisse?
Das Volkshaus in der Chemnitzer Zwickauer Straße hat für mich eine besondere Bedeutung. Schon meine Urgroßeltern lebten hier, mein Großvater und meine Mutter wurden hier geboren und auch ich erblickte in diesem traditionsreichen Haus das Licht der Welt. Ich war der Liebling meiner Oma Charlotte, deren Mann verstarb, als ich gerade mal ein Jahr alt war. Die Eltern meines Vaters lebten am anderen Ende der Stadt. Mit meinem Opi Curt verbinden mich viele Wanderungen durch das Erzgebirge, durch schöne Täler, an kleinen Bächen vorbei und dann im Goldenen Hahn Käseplatte essen und rote Limonade trinken. Meine große Liebe zur Natur, aber auch zu Büchern hat hier tiefe Wurzeln. Die schönen Bücherbände mit den handschriftlichen Gedanken meines Opis standen im Wohnzimmerschrank der Großeltern und machten mich neugierig.
Doch der Mittelpunkt meines Lebens war unser "Volkshaus". Durch meine Oma, die in unserer Familie das Regiment über alle Töpfe und Pfannen führte, wurden bei mir schon früh die Synapsen, die für die Liebe am Kochen verantwortlich sind, zum Schwingen gebracht. Zeit beim Kochen hatten wir viel, und Omas Geschichten und Erzählungen hörte ich gern.
Zu dem „Geschichten hören“ kam es dann später zum „Geschichten schreiben“ und zu dem Wunsch, Journalistin zu werden. Nach Abitur, Volontariat beim DDR-Fernsehfunk und Journalistik Studium mit Diplom, trat ich meine erste Stelle als Lokaljournalistin bei der Sächsischen Zeitung in Sebnitz an.
Zum „Bücher schreiben“ kam ich aber erst 40 Jahre später. 40 Jahre, eine verdammt lange Zeit, in der so einiges passiert ist. Das Leben spielt eben seine eigene Melodie und die ist nicht immer harmonisch. Oder doch?
So räume ich das gemietete Haus auf dem Neuwieder Kettgert aus. Ich nehme nur wenige Dinge mit, dafür alles Schöne im Herzen und Kopf. Dann beginne ich in einer neuen Stadt ein neues Kapitel meines Lebens.
Düren, die Stadt, die poetisch als Tor zur Nordeifel bezeichnet wird, empfängt mich mit nassem Guss aus fantasievoll zerzausten Wolken. Irgendwo habe ich mal gelesen: „Du sollst einen Ort im Regen betrachten, um auszuloten, ob du dort leben willst.“ Doch daran denke ich nicht, bin mit Verwaltungskram beschäftigt und suche mir aus meinem papiernen Umzugskram das zusammen, was ich zur höchstoffiziellen Anmeldung als Neudürenerin brauche. Am 11. November 2014 morgens, berühren meine Füße den Weg zum Kreisverkehr und immer weiter die Kölnstraße entlang, zum ersten Mal. Aus Dürener Bäckereien duftet es nach Berlinern und Mutzen, das beruhigt mich. Die rheinische Frohnatur lebt sicher auch hier das aktive Brauchtum. Da werde ich schnell meine Anmeldung hinter mich bringen, bevor alle in und um Düren feiern. Doch so scheinen viele kalkuliert haben. Die Stühle im Wartebereich des Bürgerbüros sind gut besetzt. Es dauert eine Weile, bis ich dran bin. Eine nette Frau um die 50 erklärt mir, dass heute nur Notbesetzung herrscht, an normalen Tagen geht alles schneller. Trotzdem nimmt sie sich für mich viel Zeit, mehr als so eine Registrierung normalerweise braucht.
Sie will plötzlich wissen, warum es mich aus Neuwied ausgerechnet nach Düren verschlägt. Ich berichte ihr meinen Facebookzufall. Da habe ich etwas angerichtet. Es sprudelt aus ihr heraus, sie müsse mich warnen, ihre Freundin hätte Ähnliches erfahren. Deren männliche Errungenschaft von so einem neumodischen Dating Portal hätte sich als Fehlgriff erwiesen, jetzt wäre die Unglückliche wieder solo. „Ich begrüße Sie hier in Düren, wünsche Ihnen alles Gute und hoffe, dass es Ihnen nicht so ergeht wie eben geschildert“, fügt sie noch hinzu. Dann bin ich entlassen und in Düren angemeldet.
Apropos Fehlgriff: Es war kein Fehlgriff, sondern ein „Schnäppchen“.
Oft sitze ich auf der alten Holzbank, die am Rundweg um die Burg Nideggen zum Schauen, Nachdenken und Rückdenken einlädt. Ab und zu nehme ich mir die Zeit dazu. Es ist Frühling und es riecht noch schwer nach winterfeuchter Erde. Frischverpaarte Vögel mit trockenen Grashalmen im Schnabel beeilen sich, ihr neues Nest zu bauen. Sie müssen schnell sein, die Natur braucht dringend singenden und insektenvertilgenden Nachwuchs. Ich lächle vor mich hin, süßes Nichtstun. Sonnenstrahlen springen von Ast zu Ast und zeigen flirrende, diffuse Schattenfiguren. Ich scheine alle Zeit der Welt zu haben und noch ein wenig mehr. Doch das täuscht.
Aus dem heiteren Himmel werden grauneblige Schattenwolken. Sie zeichnen mir bekannte Szenen. Ich erkenne Menschen und deren Tun, verworrene Vermutungen steigen aus meinem Herzen, sogar Misstrauen und Ängste. Sie geben längst vergangene Begebenheiten preis und lichten manchen Schleier.
Ich denke zurück an vergangene Zeiten, Episoden, Schmeicheleien, Lachendes, Tränendes. Dinge, über die die Wolkenschleier der Vergangenheit ihr Schweigen gebreitet haben. Doch es waren keine Naturgegebenheiten, die Geschichten machten, sondern Menschen, meine Familie, mein Umfeld. Alles wurde unter Stillschweigen gepackt, wie Ersatzwäsche in den Schrank, wohlwissend, die wollen wir nie mehr brauchen.
Jetzt lüfte ich den Schleier meiner kleinen Geheimnisse, der Dummheiten, Liebeleien, Kabalen, der dramatischen Geschehnisse oder gar Verdammnisse, aber auch der schönen Dinge, die uns wie Sonnenstrahlen zum Lächeln bringen.
Aber mehr nicht…oder doch?