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Charlottes Volkshaus
Blick in Band 3
"Chemnitz Zwickauer Straße 152"

Der vermeintliche Frieden in diesem Mai 1945 hört sich hier in Chemnitz viel mehr nach Krieg und Verderben an. Unten im Keller des Volkshauses in der Zwickauer Straße dröhnt es und die Mauern ächzen. Draußen scheinen Panzer über die Straße zu walzen, ihre Ketten sind gnadenlos zu allem, was vor ihnen liegt. Ab und zu rattern Gewehrsalven. Alle diese Geräusche hält das steinerne Gewölbe fest und beantwortet sie gleich darauf mit rieselndem Putz. Doch das Gemauerte ist ein solider Wächter und guter Beschützer. Charlotte und Ruth harren im Kohlenkeller aus. Die Mutter hat für ihre Tochter ein Versteck hinter Kartoffelhorden errichtet und hofft, dass alles gut ausgeht. Schneidermeister Schwarzmann, seine Tochter Marianne und die anderen Schutzsuchenden, halten diese Ungewissheit nicht mehr aus. Es ist wie ein Raumkoller, der sie antreibt. Sie wollen nach oben, endlich wieder Licht sehen. Die Stunden in Ungewissheit hier unten haben an den Nerven gezerrt und die Angst in die Ecke gedrängt. Es schwingt eine Irrationalität, die nicht in Worte zu fassen ist und der Glaube, dass alles gut wird, der gewinnt. Die beiden Beyer Frauen, hinten im Keller, sollen mit. Doch die bleiben und wollen hier ausharren. Bis zu welchem Ende, das bleibt offen.

Allein sind sie, im dunklen Raum ohne Zeit. Ruth schaut auf die Leuchtziffern ihrer Armbanduhr. Sie erschrickt, die Zeiger bewegen sich nicht, sie hat gestern vergessen, die Uhr aufzuziehen. Vergessen, das, was sie sonst jeden Abend tut, kurz vor dem Schlafengehen. Vater Kurt hatte sich zum Nachtdienst auf dem Güterbahnhof verabschiedet. Dieses Adieu-Sagen ist zu einem tröstenden Ritual geworden, weil niemand weiß, ob es ein Wiedersehen gibt. Ruth hatte das rote Armband abgestreift, sorgsam ihre kleine Uhr auf den Nachtisch gelegt und sich die Tränen von der Wange gewischt. Sie war traurig und hatte viele Fragen, denn sie weiß nicht, ob die Menschen, die sie liebt und vermisst, noch leben. Keine Nachrichten von Freund Toni, von Onkel Richard, Tante Martha und Cousine Christa. Auch Ungewissheit darüber, ob die Schmidts, ihre Lehrfamilie vom Café Kunze, diesen Bombenhagel überlebten. Und in diesem Wirrwarr der Gefühle, da kam keine Ordnung.

Ruth vergisst ihre Gedanken, denn es wird unerträglich laut hier im Volkshauskeller. Lautes Stiefelgetrampel, das von den steinernen Treppen mit doppeltem Hall die Stiegen hinuntergestoßen wird. Charlotte kennt diese Geräusche noch zu gut aus den vielen schlimmen Zeiten hier im Haus.

 

Und heute wieder, dazu ungewohnt kehlige Stimmen, so als würden Holzpantinen über eine ebenso hölzerne Brücke trampeln. Die Schritte kommen näher und dann stehen drei Soldaten in unbekannten Uniformen im Verschlag. Taschenlampenlicht huscht in jeden dunklen Winkel. Kopflos vor Angst stößt Ruth die schützende Kartoffelhorde um. Laut ist das und sie steht vor den Fremden. O Gott, hilf, kommt es leise über Charlottes Lippen. Die Russen sind genauso überrascht und lassen die Taschenlampen über Ruth kreisen. Auf und Ab, als würden sie überlegen. Die Zeit schleicht und die Sekunden sind gefühlte Stunden. Dann greift eine Hand nach ihrem Handgelenk und ein Blick beißt sich an ihrer kleinen Uhr fest. Der Riese, es scheint der Anführer zu sein, macht ihr begreiflich, dass er diese Tick-Tack, wie er artikuliert, haben will. Ruth gehorcht, legt sie ab in das Regal, wo sonst die Weckgläser stehen. Er streift den linken Ärmel der Uniformbluse nach oben und zeigt stolz auf die Uhrenkollektion am Arm. Er will sie mit der kleinen Damenuhr von Ruth ergänzen. Doch das zierliche Armband passt ihm nicht. Zorn in seinem Gesicht über den gescheiterten Versuch. Jetzt kommt noch Wut hinzu und es knirscht. Das Geräusch tut Ruth unendlich weh. Sie schaut auf den Boden, hinein in diesen flirrenden Lichtkegel der Taschenlampe und Tränen füllen ihre Augen. Wieder Worte des Anführers, es scheint ein Befehl zu sein. Das Gewehr des neben ihm stehenden russischen Soldaten ist auf ihre Mutter gerichtet und der Dritte beobachtet das Mädchen. Das spürt Ruth, obwohl sie unter dessen Blick ihre Augen sofort schließt. Eine Reflexreaktion. Sie hasst diese Russen. Es schauert sie kalt und sie möchte schreien. Aus Schmerz oder aus Wut, beide jagen durch ihren Kopf. Doch sie spürt eine Bremse, kein Laut dringt aus ihrem Mund. Sie beißt ihre Lippen zusammen, das tut ihr genauso weh wie die Fingernägel, die sich in ihre rechte Hand graben. Es ist ihre Mutter, die das tut. Instinktiv hatte sie nach Ruths Hand gegriffen und bewahrt ihre Tochter so vor einem weiteren Ausbruch. Dieser Befreier vollendet sein Werk, sein Stiefel tritt nochmal zu. Eine winzige Spirale oder Metallfeder segelt über den Boden und dünnes Uhrenglas vibriert. In dieser Anspannung wird jedes noch so winzige Geräusch zum Orkan. Der Russe lacht polternd, schultert sein Gewehr und zieht den Ärmel seiner Uniformbluse gerade, seine Uhrensammlung am linken Arm verschwindet wieder unter dem dunkelgrünen Stoff. Laute Kommandos von oben und die Worte des Anführers hier im Keller: „Nix passieren mit Dewuschki, wir bringen MIR“.  Er tippt an sein Käppi, als wäre es ein Anstandsbesuch gewesen und sie stiefeln schwadronierend davon. Später dröhnen Panzerkettengeräusche und Auspuffgeknatter von Militärlastwagen bis hinunter in den Keller, der Konvoi setzt sich langsam in Bewegung. Es scheint eine Ewigkeit gedauert zu haben und jetzt ist es unwirklich still.

 

Ruth spürt es kalt an den Beinen hinunter rieseln. Scham darüber und immer noch die unbestimmte Angst, ob die Soldaten auch wirklich abgefahren sind. Doch es ist so, es kommt kein Russe zurück in den Keller. Und jetzt auch Zorn darüber, dass ihr Vater nie da ist, wenn er gebraucht wird. Der Kommunist Kurt Beyer hätte es sicher den Russen begreiflich gemacht, dass sie aus demselben kommunistischen Holz geschnitzt sind. Ist das aber wirklich so? Ruth kann sich eigentlich nicht vorstellen, dass ihr Vater gegenüber Frauen so handeln würde. Oder macht der Krieg aus Menschen Bestien. Ihr Kopf platzt. Alles ist zu viel. Was Ruth mit Bestimmtheit weiß; nie wieder will sie eine Armbanduhr tragen.

 

Vorsichtig geht es hinauf. Aus dem Keller endlich wieder ins Licht. Ruth blinzelt, sie ist getroffen von der Helligkeit, die im Treppenhaus durch die Mosaikfenster flirrt. Als wäre das Sonnenlicht aus ihrem Gedächtnis ausradiert gewesen, so ist ihr. Obwohl es doch gar nicht so lange her war, als sie hinunter in den Keller stiegen. Ruhig ist es hier, sehr ruhig und das ist ungewohnt. Der Krieg scheint weggeblasen. Doch das junge Mädchen traut niemandem und auch ein Nichts wird von ihr nicht ohne einen forschenden Blick nach allen Seiten akzeptiert. Keine Änderung, doch eine gibt es, die ihr in dieser trügerischen Ruhe auffällt. Ihre Augen bleiben daran hängen; das Zeitungspapier, das die Fenster abdunkelte, wellt sich, rollt nach unten. Dieses Sonnenlicht lässt sich nicht abhalten, es will hinein ins Volkshaus. Die Hakenkreuze auf dem angegilbten Papier sind kaum noch zu sehen, haben ihren warnenden Schrecken verloren. Die Tochter fasst nach der Hand ihrer Mutter, es ist die Unversehrte, die andere pocht, als wolle sie daran erinnern, was unten geschah. Ihre Schritte werden von Stufe zu Stufe schneller, sie wollen hinauf in die dritte Etage in ihr Zuhause. Wortlos dieser Gang bis nach oben. Die Tür bei Schwarzmann steht sperrangelweit offen und Marianne, die sonst Stille wehklagt laut drinnen in der Schneiderstube. Ihr Vater wurde bei der Russenrazzia, die quer durchs Haus stattfand, verhaftet und mitgeschleift. Alles ist durchwühlt, Knöpfe auf dem Boden, Stoffballen durchstochen. So ein Durcheinander. Kleinlaut flüstert sie: „Es wäre besser gewesen, wir hätten alle unten im Keller auf das Ende des Krieges gewartet. Jetzt muss ich versuchen, meinen alten Vater wieder freizuboxen. Er hat doch nichts verbrochen, kann nur mit Nadel und Faden umgehen. Ich gehe morgen auf diese Kommandantur, all unsere Papiere und den Meisterbrief nehme ich mit. Die sollen mir meinen Vater zurückgeben, der ist doch nur ein Schneider.“ Sie schnieft und fällt Ruth weinend in die Arme, erschrocken über ihren Ausbruch. Dann dreht sie sich um und schreit nochmal laut über den Flur: „Dieser verdammte Hitler, jetzt müssen wir kleinen Leute wieder büßen.“ Die Wohnungstür fällt krachend ins Schloss.

Ruths Hand, in die sich vorhin im Keller Mutters Fingernägel krallten, pocht vor Schmerz. Doch ihr Herz pocht schneller. Sie spürt, dass dieser Schmerz sie vor noch größerer Pein bewahrte. Jetzt endlich rinnen Tränen, erst zaghaft, wenig später wie ein riesiges Wasser, dessen Staumauer vor Erleichterung brach. Charlotte schaut auf ihre weinende Tochter, ihr fallen keine Worte ein. Sie weiß, sie hat ihre Tochter vor Schändung bewahrt. Sie ahnte, dass die Blicke der drei Russen nur das „Eine“ wollten. Das spürte sie in dieser Sekunde, die darüber entschied, dass die Mutter ins Schicksalsrad griff. Charlotte geht zum Küchenschrank und holt wortlos die Essigflasche. Besser ist es, die Wunde damit auszuwaschen. Lieber dieser kurze neuerliche Schmerz. Wer weiß, welche Keime sich unten im Keller tummeln.

Endlich sitzen sie auf dem Sofa und warten. Worauf, dass wissen sie nicht genau, doch eigentlich hoffend, dass die Tür sich öffnet und Kurt im Raum steht. Wenn er hier sein wird, dann ist alles gut, er wird uns beschützen. Ja, flüstert Ruth: „Immer, wenn wir ihn brauchen, ist er weg und rettet seinen Güterbahnhof.“ „Sei doch nicht so ungerecht, Ruth“, verteidigt Charlotte ihren Ehemann. „Er tut doch seine Pflicht. Das waren unten ein paar Russen, die scheinbar keine Kommunisten sind. Dein Vater wird mit den echten Befreiern zusammenarbeiten, die werden schnell merken, aus welchem Holz Kurt geschnitzt ist und dass er schon immer für den Kommunismus kämpfte. Du wirst sehen, alles wird hier in Chemnitz wieder besser, auch wenn es jetzt schrecklich aussieht und ist. Wir bauen uns eine neue Stadt, in Erinnerung an die alte, aber noch viel schöner.“ Sie küsst Ruth auf die Stirn und atmet dabei Hoffnung und Zuversicht. Ein lautes Klopfen, ein ungeduldiges Wummern gegen die Wohnungstür, lässt beide auffahren. Doch Charlotte bedeutet, vorsichtig zu sein. Also schleichen sie über den Korridor bis zur Wohnungstür. Erleichtert sind sie, als sie Mariannes Stimme hören, sie hat gute Neuigkeiten.

Ja, der Nachbar ist wieder zurück, zwar etwas lädiert, zwei Zähne fehlen, aber dennoch optimistisch. Die optimistische Nachricht gibt er etwas zischend weiter. Sein Gewerbe darf er weiter betreiben. Er ist entnazifiziert, was das auch immer bedeutet. Die Hauptsache ist doch, er darf weiter nähen. Von dem Chef der Russen bekam er gleich einen Großauftrag. Er schlägt sich mit der wichtigen rechten Hand stolz auf die schmale Schulter und schmettert laut: „Die Russen lassen mich ihre Uniformen wiebeln. Im langen Krieg ist vieles kaputt gegangen.“ Keine Zeit hat er, um mehr zu erzählen, er muss die chaotische Schneiderstube aufräumen und auf Vordermann bringen. Er weiß noch nicht, wann die erste Fuhre Uniformen eintrifft. Er zieht Marianne an der Hand mit sich. Die schaut hoffnungsvoll.

Hoffentlich kommt Vater bald, wünscht sich Ruth, es gibt doch so viele Neuigkeiten und jetzt sogar gute. Nur die wird sie ihm erzählen. Über das Ansinnen der Russen wird sie nicht sprechen. Sie schmiegt sich an ihre Mutter. Schlafen können beide nicht, also werden sie auf dem Küchensofa auf Kurt warten. Über dieses Grübeln schläft Ruth doch ein. Dieser schlimme Tag will endlich Ruhe. Erst weit nach Mitternacht ist Kurt zurück. Charlotte ist erleichtert, ihn gesund zurückzuhaben. Sie traut diesen Siegern nicht, doch das wird sie ihm nicht sagen. Nur mit Blicken verständigend, verlassen sie die Küche. Ohne Worte geschieht das alles. Beiden ist nicht nach reden. Dieser Tag ist so voll, eigentlich übervoll, da ist es ratsam zu schweigen, damit nicht irgendein unbedachtes Wort die Emotionen zum Überlaufen bringt. Im Bett dann wird alles anders. Charlotte erschrickt über ihre Reaktion, doch das nur für einen Flügelschlag. Die Elfen, diese zarten Wesen, die in Eintracht mit einer Schar Engeln schweben, sind doch seit ihrer Hochzeit 1927 ins andere Zimmer gewechselt. In das, wo ihre Schwiegermutter Selma zum Schlafen umzog. Aber vor ihren Augen sieht sie sich mit Kurt, damals, als sie sich zum ersten Mal liebten, unter diesem goldumrandeten Bild. Sie presst sich jetzt eng an ihren Kurt.  

               

Sie braucht es jetzt und gleich, sie will spüren, dass sie lebt und geliebt wird. Ja, es passiert, die beiden sind so eins, als würde es keinen neuen Morgen geben. Bedingungslos und wild. Erschöpft schlafen sie ein. Der erste Tag dieses eigenartigen Friedens ist vorbei.

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