Charlottes Volkshaus
Blick in Band 2
"Alles dreht sich um die Kappler Drehe"
Charlottes Traum ist jetzt Wirklichkeit. Seit ein paar Wochen lebt sie in diesem Haus, dem Volkshaus in der Chemnitzer Zwickauer Straße. Das große Gebäude und alles Drumherum ist für sie ein Traum zum Wohnen und zum Leben. Seitdem sie vor vielen Jahren, als sie noch Kind war, mit ihrem Vater, der Stiefmutter und der Stiefschwester das erste Mal zu einem Gartenkonzert hier weilte, ist dieses Haus ihr nicht mehr aus dem Gedächtnis gerückt. Bald, wenn das Trauerjahr um ihren Vater vorüber ist, wird sie ihren Verlobten Kurt heiraten. Selma Beyer, ihre zukünftige Schwiegermutter, hat sie liebevoll aufgenommen, obwohl die beiden noch nicht verheiratet sind und sie stets auf Einhaltung der Traditionen und Etikette achtet. Sie spürte, dass Charlotte immer wieder von der Vergangenheit festgehalten wurde, seit sie allein die Wohnung ihres Vaters in der Gabelsberger Straße bewohnte.
„Traditionen hin oder her, du ziehst jetzt zu uns ins Volkshaus. Die Wohnung ist groß genug für uns alle und ihr werdet sie sowieso übernehmen, wenn ich mal nicht mehr bin“,
sprach sie zu Charlotte und Kurt. Und so geschah es dann auch.
Wie ein Poet ihn beschreiben würde, so idyllisch ist dieser Sommer 1927. Sonnenschein und Gänseblümchen, die hier auf der Wiese ihre zarten Köpfe im Wind bewegen und vom Blütenduft angelockte Bienen, die emsig Nektar und Pollen sammeln. Ein schönes Bild. Nur die Tischdecken, die Leibwäsche und die Handtücher, die gewissenhaft im Gras ausgebreitet sind, passen nicht so recht. Doch sie gehören hier her, werden gebleicht, denn das Stück Grün mit der Begrenzung aus Birnenbäumen ist der Wäscheplatz im riesigen Areal des Chemnitzer Volkshauses in der Zwickauer Straße. Manchmal möchte Charlotte sich in den Arm kneifen, kann es fast nicht glauben, dass es das Schicksal jetzt so gut mit ihr meint. Selma Beyer, ihre zukünftige Schwiegermutter, hat sie liebevoll aufgenommen. Charlotte ist glücklich, aber wie es nun mal so ist, vollkommenes Glück, das gibt es nur im Nimmerland. Endlich muss sie ihr Geheimnis loswerden, die Zeit drängt, lange kann sie es sowieso nicht mehr verbergen. Sie muss ihre Scheu überwinden, sich trauen, Selma die Wahrheit zu offenbaren.
Charlotte und Selma sind mit dunkelblauen Schürzen und Holzpantinen ausstaffiert, heute ist Waschtag. Oben im Haus, in der Waschküche unterm Dach, haben sie die Wäsche auf dem Waschbrett geschrubbt und gewalkt. Bei robusteren Stücken nahm ihnen der Kochkessel vorher etwas Arbeit ab. Mit den Händen ausgewrungen oder durch die Wringmaschine geleiert und in Weidenkörbe einsortiert, warteten die Stücke auf das Trocknen. So ein Waschplatz fast im Himmel hat auch seine Mühen; diesen weiten Weg bis zum Trockenplatz unten im Volkshausgarten. Da sind sie jetzt, haben ihr Pensum nahezu geschafft und sitzen auf der Bank an der Mauer. Vor ihnen wedelt die Wäsche auf den Leinen, von hölzernen Stützen in Richtung Wind gehievt. Das sieht schon putzig aus, die baumwollenen Spitzenunterhosen vom Wind aufgeblasen. Charlotte ist so gar nicht zum Lachen zumute. Sie holt Luft, noch mal Luft. „Bald werden für unsere Waschtage noch mehr Leine gebraucht, mehr Waschblau und Seife“, dann gerät sie ins Stocken. Ein wissender Blick und Selma erwidert: „Charlotte, ich bin doch nicht blind, ich habe längst bemerkt, dass du nicht allein bei uns eingezogen bist. Du erwartest ein Kind, der Glanz in deinen und in Kurts Augen hat mir das längst verraten. Deine Hände tasten oft unbemerkt und beschützend über deinen Bauch. Diese Regungen sind mir nicht entgangen.“ Sie nimmt die Schwangere in ihre Arme. Charlotte ist erleichtert.
Gleich am Abend wird am Küchentisch ein Plan geschmiedet. Selma trifft seit dem Tod ihres Ehemanns vor zwölf Jahren alle Entscheidungen allein. Und das mit Klarheit, Weitblick und weiblichem Gespür. Das traut der Betrachter dieser zarten Gestalt gar nicht zu. Und auch diesmal weiß sie genau, wie alles harmonisch und fließend sein wird. Sie schaut auf Charlotte und Kurt. Hoffentlich gibt ihr der Herrgott noch genügend Zeit, deren Weg zu begleiten und auch das zukünftige Menschenkind zu beschützen. Sie trinkt vom frischaufgebrühten Pfefferminztee, lächelt und beginnt: „Charlotte, du heiratest mit dem Kind unterm Herzen in unserer Petrikirche. Viele Erinnerungen von uns dreien bewahrt dieses Gotteshaus. Das verbindet uns und macht uns stark. Du wirst ein Brautkleid in Weiß tragen. Es ist meines und wartet oben in der Bodenkammer im Schrank, wo ich alles Liebgewordene aufbewahre, darauf, dir zu gehören. Unser Türnachbar, der Schneidermeister Schwarzmann, der wird die Robe für dich passend machen. Du bist kleiner als ich und der gefällige Schnitt, der verbirgt unser dreier Geheimnis.“
Charlotte und Kurt schauen sich an, jetzt kennen sie den Plan. Nur gegen die Uhr werden sie kämpfen müssen, denn deren Zeiger lassen sich nicht anhalten. Kurt wird auch klar, dass er entgegen seinen kommunistischen Prinzipien, Charlotte in der Kirche sein Ja-Wort geben muss. Doch aus Liebe geht er diesen Kompromiss gern ein. Marx und Engels werden beide ihre Augen zudrücken.
Die Schwangerschaft tut Charlotte gut. Keine Übelkeit und kein Stimmungsvulkan, nein, nichts worüber ihre Schwägerin Martha, während ihrer Schwangerschaft klagte. Im Gegenteil, Charlottes Hormone sprühen, ihre Züge werden weicher, fraulicher. Der kleine Bauch ist kaum zu sehen, dafür wachsen ihre Brüste. Gerade beißt sie in eine sauer eingemachte Gurke. Für eine Gabel blieb ihr keine Zeit und schon wieder schaut sie heißhungrig auf das Einmachglas auf dem Küchenbuffet. Noch zwei sind übrig geblieben, aber die überleben den heutigen Tag wohl auch nicht. Sie ist hungrig auf Saures und auf das Leben überhaupt.
Genauso geht es ihr mit der körperlichen Liebe. Das gesteht sie sich ein, als sie die Betten macht. Sie vermisst Kurts Hände und ihre Fantasie malt Bilder. Um auf andere Gedanken zu kommen, schüttelt sie Kissen und Federbetten kräftig, zieht alles faltenlos gerade, auch die burgunderrote Steppdecke. Dann schließt sie das doppelflügelige Fenster in der Schlafstube und ordnet die Gardine. Hier in diesem Schlafzimmer wurde Charlotte zur Frau. Alles ist jetzt so gerichtet wie damals, bis auf eine Sache, das Bild mit dem Elfenreigen hat das Zimmer gewechselt und hängt seit ein paar Tagen nebenan, über dem Bett von Selma. Ja, die verständnisvolle Frau hat den Verliebten bereits vor der Hochzeit das versprochene Schlafzimmer überlassen. Sie lächelte dabei als sie es so erklärte: „Das kann ich beruhigt tun, das andere ist ja bereits passiert.“