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Charlottes Volkshaus
Blick in Band 1
"Eine Geschichte um die Chemnitzer Zwicke"

Ein Sommersonntag zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die elfenbein-rote Straßenbahn quietscht behäbig um die Kappler Drehe, der geschwungenen Kehre, die genauso heißt wie dieser Chemnitzer Stadtteil, nämlich Kappel. Im vorderen Wagen sitzen um die Mittagszeit nur wenige Fahrgäste, ganz vorn rechts ein schnurrbärtiger Herr im dunklen Anzug und ein zierliches Mädchen, das an seiner weißen, frischgestärkten Schürze zieht, die ihr hellblaues Kleid vor Flecken schützt oder es schmückt, es ist ihr Sonntagsstaat. Sie hält nicht still auf ihrem Platz. Später tippt ihr Zeigefinger an die Fensterscheibe. Die Kleine hat das große, geschmiedete Wappen der Sternapotheke entdeckt und will zum hundertsten Mal wissen: „Papa, was ist das?“ Der Schaffner in seiner Uniform, zu der auch die dunkle, lederne Fahrscheintasche und der Galoppwechsler, der die Münzen beherbergt, gehören, schaut zu den beiden. Als sie vorhin an der Haltestelle Poststraße in die „R“ nach Schönau eingestiegen waren, bemerkte er auf den ersten Blick, dass diese Fahrgäste keine Chemnitzer sind. Beim Bezahlen dann, als das Rückgeld mit „klick und klack“ aus den polierten Blechröhren springt, erhärtet sich sein Verdacht „die sind vom Dorf“. Wie dieser Herr sein Billett bestellte, bezahlte und sein Wechselgeld einsteckte, das zeugte nicht gerade von Routine. Doch jetzt muss sich der Amateurdetektiv wieder auf den Betriebsablauf konzentrieren. Der schnurrbärtige Herr zieht an der Klingelschnur, das Zeichen dafür, dass er an der Haltestelle „Volkshaus“ aussteigen will.

     So passiert es auch. Mit geübtem Griff nimmt Vater Arnold sein Fliegengewicht von Tochter in den linken Arm, der andere wird gebraucht, um den Wagen zu verlassen. Seine rechte Hand umfasst den Haltegriff und vorsichtig steigt er hinunter auf den Boden. Ihm fehlt noch die Übung für ein solches Manöver. An einer Hand kann er abzählen, wie oft er ein solch neumodisches Gefährt benutzte. Doch das wird sich bald ändern.

Charlotte bewegt sich ähnlich einer Spitzentänzerin in diesen ungewohnt, braunen Schuhen auf dem Fußweg. Eigentlich läuft sie sommers barfuß. Gestern hatte sie die Prozedur des Anprobierens dieser „Dinger“ klaglos über sich ergehen lassen. Der Vater hatte aber auch sehr ernst geschaut. Irgendwie passten die großen Zehen nicht hinein. Er probierte später ein Hausmittel; walkte und knetete die Ledernen, um sie geschmeidiger zu bekommen. Die Zeit zum Einlaufen sollte damit wettgemacht werden. Hat leider nicht funktioniert.

Trotzdem wird Charlottes Trippeln jetzt schneller. Eine Litfaßsäule, aus ihrer Perspektive riesig hoch, ist der Grund dafür. Mit Plakaten beklebt, verkündet die „Runde“ alle künftigen Attraktionen in Kappel und Schönau. Mit offenem Mund staunt die Neugierige über all die Bilder, bis ihr Vater sie fest bei der Hand nimmt, denn sie müssen die breite, gepflasterte Zwickauer Straße überqueren. Ein rot lackiertes, chromblitzendes Automobil tuckert laut an ihnen vorbei, dann ist die Straße frei und sie gehen eilig hinüber. Charlotte möchte am liebsten an jedem Schaufenster stehen bleiben, eine solche Vielfalt gibt es in ihrem Ebersdorf nicht. Bäckerei, Fleischerei, Grünwaren und sogar ein Herrenausstatter. Viel zum Gucken. Doch der Vater mahnt zur Eile. Als das Mädchen „Mittagsmahl“ und das sie dazu erwartet werden, vernimmt, werden ihre Füße schneller. Sie ist hungrig. So ein Ausflug vom Dorf in die Stadt ist schon eine anstrengende Angelegenheit. Sie marschieren weiter die Lützowstraße an einer großen Fabrik entlang, unter einer Bahnunterführung hindurch und biegen links ab. Vater meint aufmunternd: „Wir sind gleich da, noch ein paar Schritte und auf der Gabelsberger Straße; dann haben wir es geschafft.“ Er zieht sie zärtlich am Schleifenband und streicht ihr übers blonde Haar.

Nur noch eine dunkle Fabrikhofeinfahrt und rechts daneben ein winziges einstöckiges, graues Haus, an dessen Tür der Vater klopft.

     Als hätte man drinnen auf dieses Geräusch gewartet, wird gleich darauf geöffnet. Eine junge Frau und ein Mädchen, vielleicht so alt wie Charlotte, stehen im Hausflur. Der Vater begrüßt beide, sie scheinen sich gut zu kennen. Sogar das andere Kind bekommt ein Lächeln ihres Vaters, bemerkt Charlotte eifersüchtig. Der Wasserhahn über dem kupfernen Waschbecken im Hausflur tropft, die Wohnungstür quietscht und endlich stehen sie in der Wohnküche. Es riecht nach Kohl, den Charlotte gar nicht mag, und ihre Füße schmerzen auch. Zum Glück gibt es für die beiden Kinder Grießbrei aus dem Topf, der auf dem Herd steht. Die Frau rührt ihn vorher kräftig mit einem Holzlöffel und ein paar Tropfen der Speise fallen zischend auf den heißen Herd. Etwas Zucker und Fett kommen auf zwei Teller und die Mädchen, die auf der niedrigen Bank neben dem Herd sitzen, dürfen beginnen. Sie löffeln schweigsam und beäugen sich neugierig. Am großen Tisch speisen die Erwachsenen irgendwas mit Fleisch und unterhalten sich lachend. Das fremde sommersprossige Mädchen knabbert an seinen Nägeln, wippt ungeduldig mit den nackten Füßen und schaut verstohlen auf Charlottes Lederschuhe. Eine ungewohnte Situation für Charlotte, denn zu Hause in Ebersdorf läuft das Sonntagsessen nach dem Kirchgang anders ab. Endlich haben die Erwachsenen aufgegessen. Die dünne Frau lächelt Carl an, holt von der Anrichte Gläser und eine Flasche Likör und gießt ein. Woher weiß diese Frau, dass Vater sonntags immer so etwas nach dem Essen trinkt, überlegt die Kleine. Doch sie kann sich den Kopf darüber nicht zerbrechen, sie muss gleich darauf aufstehen, um sich etwas anzuschauen. Die Gastgeberin führt sie nach nebenan, in eine Kammer mit einem winzigen Fenster in der ein Bett, ein schmaler Schrank und eine Kommode mit zwei Schubladen stehen. „Hier wirst du bald mit Paula wohnen“, wird ihr erklärt. Charlotte blickt zum Vater, der nickt bejahend und nimmt sie in den Arm. Das ist alles zu viel für das Mädchen, sie hält ihre Hände vor beide Augen; sie schämt sich, weil wie von selbst Tränen rinnen.

Ein paar Stunden später liegt Charlotte schlafend auf dem Sofa in der guten Stube daheim in Ebersdorf. Das Kind scheint diesen Schicksalstag noch einmal zu durchleben. Dieser Traum kennt keine Gnade, sie schluchzt auf. Ihr Vater sitzt daneben in seinem Sessel und legt seine Hand beruhigend auf ihren Arm. Er weiß nicht, ob er sie aufwecken und aus diesem Traum erlösen soll. Doch, was soll er ihr auch Tröstendes sagen. Ihm fällt nichts ein, nur dieser eine Fakt, dass sie in einigen Tagen hier wegziehen werden, das ist nun einmal so, und für alle das Beste. Es wird schon werden, denkt er und greift zu seinem Pfeifchen, wie stets abends. Er schmaucht und überlegt das weitere Vorgehen. Hildegard soll ihrem kleinen Schützling den Umzug nach Chemnitz schmackhaft machen. Sie kann das und soll es gleich morgen tun.

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