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Horizont ohne Mauer
"Brief aus Ulm"

Ich schiebe den Kinderwagen mit unserem Sohn Ernst die steile Pablo-Neruda-Straße hinauf. Horst erwartet uns schon ganz aufgeregt, denn sein Vater, der in Ulm lebt, hat ihm einen Brief geschrieben. Es ist eine Einladung zu seinem 70. Geburtstag. Horst ist sprachlos und die Gefühle überwältigen ihn. Er hat seinen Vater zum letzten Mal gesehen, als er ein kleiner Junge war. Ich freue mich für ihn, dass ein stiller Traum wahr werden wird. An alles hat sein Vater gedacht, an seine Geburtsurkunde, an seine Lebensbescheinigung und an die offizielle Einladung. Gleich am nächsten Tag geht Horst mit den Papieren zum Volkspolizei-Kreisamt, um den Besuchsantrag für die BRD zu stellen. Noch wissen wir nicht, dass dieser Brief aus Ulm unser geordnetes Leben vollkommen umkrempeln wird. Von diesem Augenblick an sind Stasi-Mitarbeiter unsere ständigen Begleiter. Sogar in der Redaktion tauchen sie auf. Ich muss den Raum verlassen, als sie mit dem Kreisredakteur sprechen, über mich natürlich, obwohl ich doch gar nicht mit in die BRD will. Und dann ihre alles sagenden Blicke auf mich. Ich habe kein gutes Gefühl und das bestätigt sich auch.

Horst, mein Lebensgefährte, der ein paar Mal zum Bestarbeiter gekürt wurde und in einer oft belobigten Brigade arbeitet, hat nicht das Vertrauen des DDR-Staates. Antrag abgelehnt. Wir sind fassungslos!!!

Ein Staat, der glaubt, dass einer seiner Bürger, der sich mit viel Fleiß ein lebenswertes Leben aufgebaut hat, der eine Lebensgefährtin und einen einjährigen Sohn hat, der eine hübsche Wohnung, ein Telefon, ein Auto, eine Garage und einen Garten sein Eigen nennt, der mit Beziehungen an Radeberger Bier, Edelfleisch und Kindersaft kommt, nicht von einer Geburtstagsfeier aus dem anderen Teil Deutschlands zurückkommt, das ist für uns nicht nachvollziehbar und wir verstehen die Welt nicht mehr. Aus Verständnislosigkeit wird allmählich Wut, dann nur noch Wut und nach wochenlanger gründlicher Überlegung ein klarer Entschluss: „Hier wollen wir nicht mehr leben, wir werden einen Ausreiseantrag stellen.“

Aber das muss konsequent und gut überlegt geplant werden, ohne die Familie einzuweihen oder sie zu belasten. Als Erstes melden wir beim Standesamt in Bad Schandau unsere Hochzeit an, obwohl eigentlich eine Heirat in unserer Lebensplanung nicht vorgesehen ist. Vor allem deshalb nicht, weil es in der DDR auch kein Makel ist, unverheiratet und mit Kindern in „Wilder Ehe“ zusammenzuleben und unserer Auffassung nach, Liebe keinen Trauschein benötigt. Doch jetzt ist plötzlich eine neue Situation eingetreten, denn nur wenn wir verheiratet und eine Familie sind, haben wir überhaupt eine Chance, dass ein Ausreiseantrag bewilligt werden könnte.

Wir sind ­allein, als wir an diesem 24. Juli 1982 das Standesamt betreten. Keine Familie, keine Freunde, nicht einmal Trauzeugen, aber die waren in der DDR auch nicht notwendig. Ganz bewusst haben wir über unsere Hochzeit Stillschweigen gewahrt. Es ist ein normaler Arbeitstag und Horst hat ab 14 Uhr Spätschicht. Heimlich legen wir uns in der Garage die Hochzeitsgarderobe an, es soll uns ja niemand in unserer Festtagskleidung sehen und Fragen stellen. Dann ins Auto und schnell zum Standesamt. Vorher wollen wir noch den vor Wochen bestellten Blumenstrauß abholen, denn wenigstens der gehört irgendwie dazu. Ringe haben wir nicht, uns fehlt das Altgold, das zum Eintausch gegen Hochzeitsringe erforderlich gewesen wäre.

Die Standesbeamtin erwartet uns vor der Tür des Trausaales, begrüßt uns und fragt nach den Hochzeitsgästen und den Trauringen. Sie staunt nicht schlecht, als wir beides verneinen. „Aber heiraten wollen sie doch, oder?“ „Natürlich ... JA“ geben wir zur Antwort. Sie schlägt dann vor, unter diesen Umständen die Zeremonie etwas zu verkürzen und nur ein Lied vom Tonband ablaufen zu lassen.

Zur „Barcarole“ aus Hoffmanns Erzählungen marschieren wir also ein und mit der „Barcarole“ aus Hoffmanns Erzählungen marschieren wir auch wieder aus, mit dem Buch der Familie in der Hand.

Jetzt sind wir verheiratet und ich werde meine Arbeit als Journalistin aufgeben. Ich ahne nämlich schon, welche Repressalien auf mich zukommen werden, wenn wir erst mal den Ausreiseantrag gestellt haben. Als Nächsten für mich unausweichlichen Schritt, schicke ich mein Parteibuch an die SED-Kreisleitung zurück und erkläre meinen Austritt aus der Partei. Bin ich jetzt ein Vaterlandsverräter? Das jedenfalls meint mein Kreisredakteur, der mich mit den Worten verabschiedet: „Wenn ich könnte, würde ich dich erschießen.“

Das waren schon drastische Worte, die ich nie vergessen werde. Es folgten nun eineinhalb Jahre Ausgrenzung, banges Warten, Ungewissheit und ein Kampf um unsere Ausreise.

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