top of page

Charlottes Volkshaus

Blick in Band 4 - 432 Seiten

"Mit anderen Augen"

Noch hat Charlotte den Wohnungsschlüssel in der Hand, sachte schließt sie die Tür und blickt auf den blank polierten Briefkasten. Was sie jetzt tun muss, das bereitet ihr unermesslichen Schmerz. Es muss sein. Schnell, aber doch irgendwie zaghaft, so als hielten Tausende Erinnerungen die fünf Finger davon ab, die letzte Verbindung zu ihrem Volkshaus aus dem Herzen zu schneiden. Sie lässt los. Ein Klack, der Schlüssel ist verschwunden. Wo eine Fast-Ewigkeit Briefe und Karten landeten, da wartet er auf neue Hände, die ihn brauchen. Es ist Januar 1962.​ In Charlottes Kopf fliegen die Gedanken. Über 30 Jahre ihres Lebens hat sie hier im Volkshaus in der Zwickauer Straße gelebt. Ihre Hand streicht ein letztes Mal über den Türknauf. Entschlossen wischt sich die 57-Jährige über ihre Augen, die Tränen müssen weg, sie wird stark sein. Drei Etagen hat sie dafür Zeit, dann ist sie unten im Hausflur. Vor dem Volkshaus wartet ein Auto, das sie nach Meißen bringen wird. Sie schließt mit Chemnitz, wie Charlotte noch immer, das neue Karl-Marx-Stadt, nennt, ab. Nie mehr wird sie in diese Stadt und nie mehr in dieses Volkshaus zurückkommen. Die Erinnerungen an ihre Zeit mit Kurt, ihrem verstorbenen Ehemann, der einzigen großen Liebe in ihrem Leben, die nimmt sie mit in dieses andere Leben.

Petra, die zehnjährige Enkeltochter, die hinten im blauen „Wartburg“ hockt, die Knie fest zusammengepresst, genau wie ihre Hände, als würde ihr Schmerz dadurch weniger, schaut kurz auf, als Oma Charlotte sich neben sie setzt. Vorn auf dem Beifahrersitz wiegt Mutti Ruth das Baby zärtlich. Diese Katrin, gerade mal drei Monate, eingewickelt in der flauschigen mit hellgrünen Teddybären bedruckten Decke, brabbelt und deren kleine Fingerchen fassen nach der Hand ihrer Beschützerin. Diese Innigkeit kann die große Schwester hinten nicht sehen. Zum Glück, ihr Herzeleid ist sowieso schon riesig groß. Ulrike, meist Uli gerufen, ihre mittlere Schwester sitzt auf dem anderen Fensterplatz hinten, und Petra kann sie gut beobachten. Selbstvergessen pult sich die Jüngere in der Nase. Das erspäht die Große und ekelt sich, als die Kleine, den Popel auch noch mit Daumen und Zeigefinger rollt und an die Scheibe klebt. Trotz dieser Ablenkung rollen die Tränen aus den Augen von Petra, sie wollen einfach nicht enden. Oma spürt Trauer, die ist genauso bitter wie ihre eigene. Eigentlich viel schlimmer; das Kind verliert mit dem Heute ihr bisheriges Leben. Es kann sich nicht wehren, muss mit in dieses neue Leben. Charlotte hingegen, hat sich in Eigenverantwortung entschieden.

Kein leichter Abschied für ein knapp zehnjähriges Mädchen, das ihre Freundinnen, die Schule und ihr Volkshaus mit der Bücherei und all den vielen Wohlfühlecken vergessen soll, um in dieses Meißen umzuziehen; in eine winzige Plattenbauwohnung. Ein Entrinnen gibt es nicht.

Petra kuschelt sich jetzt an Oma. Charlotte seufzt, der Fahrer hat endlich die Zigarette aufgeraucht und startet den Motor. Rechts der Lumpenhandel „Sachse“ und weiter im Schritttempo die paar Meter bis zur Zwicke. Dort hält er an, eine Straßenbahn hat Vorfahrt. Petra schließt die Augen, sie spürt das Ruckeln der Reifen über die Schienen. Sehen will sie den Abschied nicht. Oma streicht ihr liebevoll über den schwarzbraunen Pony und flüstert beruhigend: „Alles wird gut, du wirst es bald schon sehen.“

Um Uli braucht sich Charlotte nicht sorgen, die haucht auf die bereits beschlagene Seitenscheibe, um Kreise zu malen. Die Fünfjährige genießt das Abenteuer Autofahrt, weiter kann ihr Köpfchen gar nicht denken, sie ist viel zu jung, um zu begreifen, was dieser „Umzug“ bedeutet.

Ein Lichtblick an diesem traurigen Tag ist für Petra, dass ihre geliebte Oma Charlotte mit umzieht. Oma nimmt Quartier in einem der beiden winzigen Kinderzimmer. Das gibt dem Mädchen etwas Trost, sie schmiegt sich an ihre Vertraute und bettet den Kopf in die Falten deren weiten Mantels. Trotz Wollstoff spürt Petra den Herzschlag der Großmutter. Wärme und Geborgenheit, dazu die Gleichmäßigkeit der Fahrgeräusche und endlich gleitet alles Schlimme vom Kind ab. Petra schläft ein, Charlotte hält sie fest, kein Stoß soll ihre Kleine aufschrecken und aufwecken.

Draußen hat es zu schneien begonnen, der „Wartburg“ schnurrt unbeeindruckt über die Chaussee. Petra lächelt, es scheint, sie träume etwas Schönes. Charlotte lehnt sich zurück, sie ist beruhigt, flüstert mit Uli, steckt ihr ein Malzbonbon in den kleinen Mund und zupft deren gestrickten Schal zurecht. Nur nicht krank werden, gerade jetzt in diesem Meißen und in der neuen Wohnung.            

Charlotte erschrickt gewaltig, der Fahrer bremst. Das Auto schlingert, obwohl er ganz sanft das Pedal tritt. Dann hält es brav an. Aufatmen im „Wartburg“. Diese Erleichterung lässt die Scheiben hinten beschlagen. Etwas weiter vorn auf der Straße verliert ein sogenannter Kleintransporter „Barkas“ den Kampf gegen die Glätte, denn der Weg führt sachte bergauf. Deshalb drehen seine Räder durch und wirbeln Schnee auf, dann steht er und der Fahrer steigt aus.

Glücklicherweise schläft Petra fest, erwacht nicht durch diesen Ruck. Sie bemerkt das Geschehen außerhalb ihres Traumes nicht und lächelt wieder. Uli wischt emsig mit den Fingern über den Scheibendunst und fragt Oma, ob sie noch ein „Bomsel“ bekommt. So nennt sie die braunen süßen Bonbons, die Charlotte ihr aus der Metalldose reicht. Eines ist ihr gerade in den kleinen Mund befördert worden und eine liebevolle Hand streicht ihr übers blonde Haar. Oma wartet ab, was jetzt draußen passiert. Anders Mutti Ruth, die ängstlich schaut. Ihr Baby hält zwar noch Ruhe, aber wie lange noch. Sie flüstert mit dem Chauffeur. Der flüstert zurück und greift zur Zigarette, um eine Pause zur Überlegung zu haben.

Charlotte sieht auf Petra und erahnt, dass ihre Enkelin aus ihrem Traum erwacht. Das Kind schreckt auf, es realisiert die bittere Realität, dass alle auf dem Weg nach Meißen in die neue Wohnung sind. „Oma, ich habe Angst um meine Bücher. Hoffentlich haben die Möbelpacker sie nicht vergessen und die liegen noch im Volkshaus“, klingt es ängstlich. Beruhigende Hände ihrer Großmutter greifen nach ihren Händen und sie hört: „Ein großer Karton zuckelt im Möbelwagen nach Meißen. Darin liegen deine Bücher, mit Zeitungspapier geschützt. Auf die Kiste hat Vati in großen Buchstaben geschrieben: Petras Bücher, Kinderzimmer 1 und drei große Ausrufungszeichen dahinter gemalt.“

Das Geschehen draußen hat Petra noch gar nicht realisiert. Dort tut sich so einiges im verschneiten Winterland. Es beginnt eine Rettungsaktion. Ihr Wartburg-Fahrer hat die Raucherpause gut genutzt. Er weiß sich zu helfen. Eine Decke wird aus dem Kofferraum geholt. Es ist nicht sein erster Winter als Wagenlenker. Die gestreifte Pferde-decke liegt einen Augenblick später auf dem festgefahrenen Schnee vor dem Kleintransporter, dessen Fahrer verstehend nickt. Nun beginnt die Aktion der beiden Männer. Der Wartburg-Fahrer schiebt von hinten das festgefahrene Gefährt kräftig an. So schwer ist es gar nicht, redet er sich zu, obwohl er spürt, dass seine Muskeln vor Anspannung vibrieren. Sie schaffen es. Vorsichtig hat der Barkas-Fahrer den Gang eingelegt und mit Gefühl Gas gegeben. Langsam fährt er an, überwindet die kleine Steigung und zuckelt weiter. Das ist so ausgemacht, denn noch ein Halt zur Verabschiedung und der gleiche Zirkus hätte von vorn beginnen können. Eine neue Zigarette zündet sich der Retter an, die hat er sich aber auch verdient. Sein Gesicht ist rot vor Anspannung.

Endlich landet das letzte Stück der Zigarette im Schnee und sie fahren weiter. Erleichterung bei Mutti und Oma. Charlottes Herz schlägt heftig und schmerzt. Sie weiß, Aufregung tut ihr nicht gut. Mit ihrer Gesundheit steht es seit dem Tod ihres Mannes nicht zum Besten. Sie öffnet den oberen Knopf ihres Mantels, ihr ist heiß. Straßenbahnfahren ist weniger gefährlich; zu dem Schluss kommt sie. Aber das ist leider vorbei. In Meißen fährt zwar eine, aber die transportiert nur Lasten und keine Fahrgäste. Das hat ihr Schwiegersohn ihr schon berichtet. Busse fahren dort von einem Ende der Stadt zum anderen.

Das Auto schlängelt sich jetzt auf der schmalen Straße an einem Flüsschen entlang, das an einigen Stellen von kleinen Eisschollen bedeckt ist. Der Fahrer wird gesprächiger und erklärt, dass der Wasserlauf sich Triebisch nennt und auch dieses Tal so heißt. Jetzt beginnt es auch wieder sanft zu schneien, aber das stört ihre Fahrt zum neuen Zuhause nicht.

bottom of page